Tafel Österreich setzt auf Kollaboration statt Konfrontation und warnt vor voreiligen Schlüssen

Stellungnahme der Tafel Österreich zu den vom BMK veröffentlichten Zahlen zur Lebensmittelweitergabe aus dem Handel

Lebensmittel in der Mülltonne

Am 1. März 2024 hat das Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie Zahlen von 250 Unternehmen mit gesamt 4.000 Verkaufsstellen zu den im 4. Quartal 2023 im Handel weggeworfenen vs. gespendeten Lebensmitteln publiziert. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum knapp 4.900 Tonnen an Lebensmitteln an Tafeln und Sozialmärkte zum menschlichen Verzehr gespendet. Rund 16.200 Tonnen an Lebensmitteln wurden als Abfall entsorgt. Hochgerechnet über das Jahr bedeutet das knapp 20.000 Tonnen weitergegebene Lebensmittel und knapp 65.000 Tonnen Abfall. In der Erhebung nicht erfasst wurden die Retouren aus dem Handel (gemäß ECR-Studie 2014: 35.000 Tonnen im Jahr) und die Tierfutterverwertung (zuletzt 10.000 Tonnen im Jahr).

Hinter diesen Zahlen des Überflusses auf der einen Seite steht ein ganz konkreter Mangel auf der anderen Seite – nämlich mehr als 1,5 Millionen Menschen, die heute mehr denn je von den multiplen Krisen und anhaltenden Teuerungen betroffen sind und großteils nicht mehr wissen, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. Mehr Menschen als je zuvor sind heute in Österreich auf diese Lebensmittelspenden angewiesen. So waren es alleine bei der Tafel Österreich letztes Jahr 35.000 Personen, die auf diese kostenfreie Lebensmittelhilfe in sozialen Einrichtungen zurückgegriffen haben – ein Plus von mehr als 25 % gegenüber dem Vorjahr, das ebenfalls bereits eine Steigerung von 40 % verzeichnete.

Wie sind nun die neuesten Zahlen des BMK aus Sicht der Tafel Österreich einzuordnen?

  • Insgesamt hat sich die Menge an weitergegebenen Lebensmitteln aus dem Handel seit 2014 verdreifacht, auch das Verhältnis Weitergabe vs. Abfall hat sich gegenüber der ECR-Studie von 2014 großteils stark verbessert (damals 8 % vs. heute 23 % Spendenanteil).
  • Im Vergleich zur freiwilligen Erhebung im Berichtszeitraum 2018-2020, an der allerdings nur 11 Händler teilgenommen haben, ist die Spendenmenge 2023 leicht zurückgegangen. Im internationalen Vergleich und in Anbetracht der Tatsache, dass in den letzten Jahren immer mehr Lebensmittelüberschüsse vom Handel selbst abverkauft werden, sind die jetzt eingemeldeten Spendenmengen jedenfalls beachtlich.
  • Aus der Erfahrung von Tafeln in anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder Tschechien, wo der Handel mehr oder weniger gezwungen wird, Lebensmittel an soziale Einrichtungen wie Tafeln zu spenden, wissen wir, dass dort gerne nicht genusstaugliche Lebensmittel – also Abfall – weitergegeben werden. Das heißt, die weitergegebene Menge an Lebensmitteln hat sich nach Einführung solcher Gesetze zwar tlw. stark erhöht, der Anteil noch genusstauglicher Lebensmittel ist aber gleichzeitig gesunken. Die Warenspenden müssen somit stärker als früher auf Kosten der sozialen Organisationen aussortiert werden, bevor sie weitergegeben werden können. Soziale Organisationen sind aber keine Abfallentsorger.
  • Eine ähnliche Situation erwarten wir in Österreich: Schon bisher gab es Händler, die sozialen Organisationen alles inkl. Müll mitgegeben haben. Und bereits jetzt ist der Übergang zwischen guten und schlechten Warenspenden fließend; häufig sind große Teile der Waren, die im Supermarkt aussortiert werden, am Ende ihrer Genussfähigkeit. Einzelne Vereine nehmen trotzdem bereitwillig alles mit und sortieren an ihren Standorten die Ware großflächig aus. Durch die neue Meldepflicht und den nun einsetzenden medialen Druck werden Händler noch dazu ermutigt, auch nicht mehr genusstaugliche Ware weiterzugeben. Im Sinne geltender Gesetze (sowohl Handel als auch karitative Vereine sind im rechtlichen Sinn Lebensmittelhändler) und im Sinne der Lebensmittelsicherheit ist dieses Verhalten von Seiten der Filialen als auch von den entgegennehmenden Vereinen mehr als fragwürdig.
  • Die großen Unterschiede im Verhältnis gespendeter zu weggeworfener Ware zwischen den einzelnen Händlern (bis zu Faktor 25 an Unterschied) machen stutzig, was hier im Sinne der Datenqualität gemessen bzw. eingegeben wurde und ob hier nicht teils Äpfel mit Birnen verglichen werden. Aus der täglichen Praxis sind diese Unterschiede jedenfalls nicht zu erklären.
  • Es gilt, wie immer bei solchen Themen, die Weitergabe aus der Praxis und im Detail zu verstehen, um das Gesamtbild richtig zu erfassen. So kann prinzipiell die Art und Menge weitergegebener Lebensmittel von Filiale zu Filiale desselben Händlers stark unterschiedlich sein. Den Unterschied macht, wie so oft, ein konsequenter Beziehungsaufbau mit jedem einzelnen Warenspender. So hat es jede:r Filialleiter:in bis zu einem gewissen Grad selbst in der Hand, welche Waren weitergegeben werden, wie viele Lebensmittel noch in diversen “Überraschungssackerln” abverkauft oder gespendet werden, wie viele abholende Organisationen täglich vorbeikommen, … Dabei kommt neben der Beziehungspflege v. a. auch der permanenten Schulung und Sensibilisierung von Filialmitarbeiter:innen eine ganz gewichtige Rolle zu – Aufgaben, die viele Vereine seit Jahrzehnten auf eigene Kosten übernehmen.
  • Aus unserer täglichen Praxis betrachtet gehen die gespendeten Mengen im Handel in Österreich und in vielen anderen europäischen Ländern seit Jahren zurück. Das hat unterschiedliche Gründe: vom großflächigen Abverkauf von Waren, die früher gespendet wurden, über KI-Lösungen im Handel bis zu einem Überangebot an Vereinen, die Lebensmittel abholen möchten. Wie die eingemeldeten Daten zeigen, liegt die Untergrenze der Warenspenden bei ca. 400 kg pro Quartal. Das entspricht ca. 133 kg pro Monat und ca 5 kg pro Tag. Das erklärt, warum viele karitative Vereine diese Kleinstmengen nicht mehr mit dem Auto abholen – was nicht nur aus ökologischen Gründen durchaus zu begrüßen ist. In anderen europäischen Ländern werden (unter Zuhilfenahme von digitalen Tools) diese Kleinstmengen, die oft an der Grenze zur Genusstauglichkeit sind, direkt mit sozialen Einrichtungen in der nächsten Umgebung vernetzt, um die Warenspenden auf kürzestem und schnellstem (Fuß-)Weg zu den bedürftigen Menschen zu bringen.
  • Abschließend ist zu betonen: Die vom Handel genannten weitergegebenen Mengen entsprechen nicht unbedingt den tatsächlich gespendeten Mengen (da weitergegebene, aber nicht mehr genusstaugliche Waren im Anschluss bei den Vereinen entsorgt werden müssen!). Außerdem kommen nicht 100 % der gesamt gespendeten Mengen immer tatsächlich armutsbetroffenen Menschen zugute. Es gilt auch und v. a. von Händlerseite genau hinzuschauen, was mit ihren Warenspenden passiert und wieviel davon tatsächlich weitergegeben werden kann und bedürftige Menschen erreicht. Auch hier würde eine digitale Erfassung und Verarbeitung von Daten wie in anderen europäischen Ländern helfen, um wirklich zu verstehen, was in der Kette nach der Weitergabe durch einen Warenspender passiert. Das wäre auch im Sinne der SDGs und dem kommenden SDG Reporting absolut notwendig.

Was bedeutet die Veröffentlichung der LEH-Daten für uns als Tafel Österreich?

Die Tafel Österreich arbeitet seit 25 Jahren mit dem Handel zusammen und blickt trotz stark geänderter Rahmenbedingungen (abnehmende Warenspenden durch verstärkten Abverkauf von Überschusswaren im Handel selbst) immer lösungsorientiert nach vorne, wie wir gemeinsam noch mehr gegen Lebensmittelverschwendung tun können – so beispielsweise auch zu neuen Themen wie der Fleischrettung.

Wir sehen auch in anderen europäischen Ländern, dass dieser Ansatz, auf Kollaboration statt Konfrontation zu setzen und positiv verstärkend auf die Warenspender einzuwirken (statt mit Verboten) der zielführendere ist. Dahingehend ist Italien für uns mit dem Gadda Law ein sehr positives Beispiel, wo Akteur:innen die gesamte Wertschöpfungskette gemeinsam mit der Politik durchleuchtet und nach besseren Lösungen, politischen Rahmenbedingungen, Gesetzen etc. gegen Lebensmittelverschwendung gesucht und auf den Weg gebracht haben. Auch in Bezug auf eine mögliche steuerliche Anerkennung von Warenspenden und Auflösung von Graubereichen sind die meisten anderen europäischen Länder schon weiter.

Als Tafel Österreich versuchen wir bei jeder Warenspende auch immer die Ökologie mitzudenken, da es keinen Sinn macht, Warenspenden aus dem Handel in der Größenordnung von ein paar Kilogramm pro Tag mit dem Lieferauto abzuholen. Hier sind Tafeln in anderen europäischen Ländern, nicht zuletzt dank digitaler Hilfsmittel, schon großteils um einiges weiter. Viele Tafeln in Europa – auch wir – beschäftigen sich schon detailliert mit dem CO2-Fußabdruck bzw. dem kommenden SDG-Reporting. Auch dafür sind Datenqualität, lückenlose Dokumentation und Monitoring, tlw. mit digitalen Tools, von großer Wichtigkeit.

Transparenz und ein entsprechendes Datenmonitoring entlang der gesamten Wertschöpfungskette sind beim Thema Lebensmittelverschwendung prinzipiell immer zu begrüßen. Die jetzt erhobenen Zahlen lassen aber zu viele Fragen bzw. Punkte offen und sagen nichts über die tatsächliche Warenqualität in der Weitergabe aus. Diese Daten (d.h. welcher Anteil der Warenspenden aus dem Handel kann tatsächlich noch weitergegeben werden) wären aber wichtig, um keine voreiligen oder falschen Schlüsse zu ziehen oder den Warenspender durch Gesetze wie das nun vorliegende im schlimmsten Fall zu den falschen Taten (Weitergabe von Müll) zu „ermutigen“.

Transparenz ist aber auch auf Empfängerseite wichtig. Die jetzige Diskussion sollte dafür genutzt werden, dass sich jeder Warenspender damit auseinandersetzt, was mit seinen Warenspenden nach der Weitergabe auch tatsächlich passiert: Werden sie kostenfrei weitergegeben oder wiederum verkauft (und zu welchem Preis)? Kommen sie zu 100 % bedürftigen Menschen zugute? Gibt es Sozialarbeit vor Ort, um den Menschen aus der Armut zu helfen? usw. Denn nur das sollte für jeden Warenspender mit Blick über den Tellerrand im Sinne der SDGs und der eigenen Wirkung das Maß der Dinge sein.