Nachbericht: Das war unser
1. Zukunftsdialog
Mehr als 250 Gäste, großartige Stimmung und viele spannende Ansätze: Das ist unser Resümee zum ersten Zukunftsdialog von Die Tafel Österreich.
Die Premiere unseres Zukunftsdialogs in der Wiener Urania war ein fulminanter Start in unser 25. Jahr und in unser erstes als Die Tafel Österreich – dank der großartigen Unterstützung durch Sponsor:innen, unserer ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen und vor allem dank der zahlreichen Gäste und Expert:innen, die uns wertvolle Inputs für die Zukunft der karitativen Lebensmittelrettung und Armutsbekämpfung geliefert haben.
Vielen Dank an dieser Stelle an alle Mitwirkenden – und insbesondere auch für jene, die leider nicht dabei sein konnten, gibt es hier einen Nachbericht und eine Fotogalerie zu den Highlights des Tages.
Keynotes: Trends & Topics
Zum Auftakt des von Medienexperte Gerald Groß moderierten Nachmittagsprogramms gab Alexandra Gruber, Geschäftsführerin Die Tafel Österreich, Einblicke in die aktuellen Herausforderungen der Tafelarbeit und die Entwicklung der Wiener Tafel, deren logische Konsequenz die Anpassung und Weiterentwicklung der Marke an das tatsächliche Wirkungsfeld und die damit verbundene Umbenennung in Die Tafel Österreich ist (mehr dazu hier).
Gudrun Obersteiner (BOKU Wien), Top-Expertin im Bereich Abfallwirtschaft, zeigte in ihrer „Bestandsaufnahme zur Lebensmittelverschwendung in Österreich“ auf, dass Lebensmittelabfälle – wären sie ein Land – nach wie vor weltweit drittgrößter CO2-Verursacher nach China und den USA sind. Allein in Österreich werden jährlich rund 1 Million Tonnen Lebensmittel entsorgt. Abfälle, die zu einem großen Teil vermeidbar wären. Rund die Hälfte davon verursachen private Haushalte, u. a. aufgrund einer falschen Interpretation des MHDs, falscher Lagerung oder weil schlicht zu viel eingekauft wird. Durch mehr Zusammenarbeit, verbesserte Logistik und Unternehmen wie Die Tafel Österreich lasse sich viel erreichen, so Obersteiner – „aber letztlich braucht es jede und jeden einzelnen von uns, um wirklich etwas zu verbessern“.
Im Anschluss daran vermittelte Martin Schenk, Sozialexperte und Mitbegründer der Österreichischen Armutskonferenz, ein besseres Verständnis von Armut. Diese sei stets a) kontextbezogen („Armut, auch die absolute, setzt sich immer ins Verhältnis, denn sie geht davon aus, was wir unter einem guten Leben verstehen“), b) unfreiwillig (im Gegensatz zur bewussten Entscheidung, bspw. zu fasten oder etwas nicht zu kaufen) und c) durch einen Mangel an Möglichkeiten sowie das Gefühl des Nicht-Zurück-Könnens gekennzeichnet. Speziell die Ernährungsarmut bedeutet einen Mangel in mehrfachem Sinn – nämlich an ausreichender und ausgewogener Ernährung, aber auch am guten Speisen im Sinne des (sozialen) Umfelds. Die allgemeine Teuerungsdiskussion relativierte Schenk: „Wir sitzen alle im selben Sturm – aber in völlig unterschiedlichen Booten.“
Und die eigens aus Belgien angereiste Angela Frigo (European Food Banks Federation FEBA, deren Mitglied Die Tafel Österreich ist) gab nicht nur Einblick in die Landschaft der europäischen Tafelorganisationen, sondern bestätigte den – in Österreich beobachteten – deutlich gestiegenen Bedarf auch auf EU-Ebene: Wurden 2019 noch 9,5 Mio. armutsbetroffene Menschen unterstützt, so waren es zuletzt bereits 12,4 Mio. Insbesondere ist auch eine neue Risikogruppe hinzugekommen, die auch hierzulande verstärkt betroffen ist: die sogenannten „Working Poors“ – Erwerbstätige, die aufgrund der anhaltend hohen Lebenshaltungskosten nicht mehr über die Runden kommen.
World Café: Zukunftsimpulse durch Schwarmwissen
An insgesamt 14 Tischen wurde anschließend beim World Café unter der Gesamtleitung von Sabine Zhang (Trainconsulting) und unterstützt von Beraterin Isabell Bickel intensiv zu unterschiedlichen Zukunftsthemen diskutiert – mit enormem Output und innovativen Lösungsansätzen, die wir auch künftig in Fokusgruppen weiterverfolgen werden (bei Interesse bitte um Info an verena.scheidl@tafel-oesterreich.at).
Einige Highlights im Überblick:
- Wie kann man die „Generation Greta“ besser erreichen? Mit einem Perspektivenwechsel, so eine Erkenntnis des Tages: Erwachsene müssen lernen, von Kindern und Jugendlichen zu lernen – denn was diese „sexy“ finden oder wozu sie eine Beziehung haben, können wir letztlich nicht diktieren. Ebenso wurde drastischer Aktionismus als Ansatzpunkt diskutiert.
- Wie können Unternehmen und NGOs – nicht zuletzt unter dem Vorzeichen der ab 2025 geltenden Corporate Sustainability Reporting Directive – sinnvolle Nachhaltigkeits-Kooperationen schließen und wie kann Green- bzw. Whitewashing verhindert werden? Pflicht als Beweggrund für „Good Corporate Citizens“ sei okay, waren sich die Teilnehmenden einig – so lange ethische Grenzen nicht überschritten werden bzw. sich Unternehmens- und NGO-Zweck nicht diametral entgegenstehen. Über interne Richtlinien inkl. „Ethik-Kommissionen“ für NGOs und fokussiertes Engagement auf ausgewählte SDGs wurde ebenso debattiert wir über niederschwellige Möglichkeiten zur „Pflichterfüllung“ für Unternehmen.
- CO2-Zertifikate (z. B. aus der Tafelarbeit) zu generieren und diese nicht als Ablasshandel, sondern als einen wesentlichen Nachhaltigkeits-Aspekt verstehen – das wünschen sich die „Kampf den Emissionen“-Runden. Dazu brauche es auch und vor allem mehr Information über die Vorteile für Unternehmen und Umwelt.
- Eine witzige, aber nichtsdestotrotz ernstgemeinte Idee für künftige Tafel-Aktivitäten brachten die Gäste des Tischs „Zur Wirkungsanalyse der Tafelarbeit“ hervor: Lebensmittelhilfe in Verbindung mit einer Partyreihe, so der Gedankenansatz, könnte armutsbetroffenen Personen einen sozialen Mehrwert bieten – denn geselliges und ausgelassenes Beisammensein ist gerade für Menschen in Notlage eine Rarität und leistet einen Beitrag gegen soziale Ernährungsarmut.
- Nicht erst beim (vermeidbaren) Lebensmittelabfall, sondern viel früher – nämlich bei der Produktion – ansetzen: Dieser Denkansatz kristallisierte sich u. a. zum Thema Kreislaufwirtschaft heraus. Dass damit aber nicht nur die Produzenten, sondern vor allem auch die Verbraucher:innen gemeint sind, ebenso – mehr Bewusstseinsbildung und ein Umdenken von allen zu den Themen Verfügbarkeit und Konsum gehen damit unweigerlich einher.
- „Alles, was Recht ist“: Unter diesem Motto wurde darüber diskutiert, was es braucht, um die karitative Lebensmittelweitergabe zu vereinfachen. Denn NGOs wie Die Tafel Österreich gelten immer noch als Lebensmittelhändler, eine Zuschreibung, die wesentlich am Kern der Tätigkeit eines gemeinnützigen, mildtätigen Vereins vorbeigeht.
- Am Tisch „Lebensmittelrettung aus der Landwirtschaft“ gab es intensive Gespräche, wie große Zukunftspotentiale an Überschüssen gehoben werden können – wissend, dass die Herausforderungen in Lager, Logistik etc. sehr hoch und divers sind.
- Beim Thema digitale Lebensmitteldrehscheibe zeigte sich schnell, dass IT-gestützte Systeme eine Hilfestellung sein können, wenn sie entsprechend benutzerfreundlich gestaltet sind. Sie alleine werden aber die physische Warenbewegung nicht durchführen, d.h., gewisse Tätigkeiten werden auch weiterhin stark vom Know-how und der Expertise ihrer Benutzer:innen abhängen.
- Wie Unternehmen noch mehr mit NGOs zusammengebracht werden können, war Kernthema der CSV-Partnerschaften (Corporate Social Volunteering). Weil ehrenamtliche Mitarbeit in Zeiten wie diesen immer schwieriger zu finden ist und Unternehmen ihren Mitarbeiter:innen in diesem Bereich mehr und mehr Angebote schaffen, erscheinen CSV-Partnerschaften heute für NGOs wie Die Tafel Österreich wichtiger denn je.
- Beim Tisch Ernährungsunsicherheit ging es darum, wie man Menschen, die derzeit massiv unter den Teuerungen leiden, v.a. in Bezug auf die materielle Ernährungsarmut helfen kann.
- Integration und Inklusion standen im Zentrum einer weiteren World-Café-Station. Klares Ziel: u. a. Menschen mit Behinderung oder Personen mit Fluchthintergrund ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Hier können Organisationen wie Die Tafel Österreich einen kleinen, aber wichtigen Beitrag leisten.
Podiumsdiskussion: Infotainment in Reinkultur
Spannend, fundiert und überraschend unterhaltsam gestaltete sich die abendliche Expert:innen-Diskussion zum Spannungsfeld zwischen karitativer und kommerzieller Lebensmittelrettung. Unter der Leitung von Karin Bauer (Der Standard) diskutierten am Podium Regina Amer (Aktivistin gegen Wohnungslosigkeit), Wirtschaftsexperte Christoph Badelt, Alexandra Gruber (Die Tafel Österreich), Unternehmensberater Christian Horak (EY Österreich), Martin Schenk (Österreichische Armutskonferenz) und Rainer Will (Handelsverband) über Gründe und Lösungsansätze für die derzeit prekäre Situation der karitativen Lebensmittelrettung.
Eine klare Trennung zwischen karitativer und kommerzieller Lebensmittelrettung, so Christian Horak, gebe es nicht mehr. Es gehe verstärkt darum, soziale Geschäftsmodelle zu entwickeln, um sozialen Problemen mit wirtschaftlichen Ansätzen zu begegnen. Die Weiterentwicklung von Die Tafel Österreich, auch in Richtung Landwirtschaft, halte er daher für einen sinnvollen Schritt. Bei der Lebensmittelverschwendung liege der „größte Hebel wohl bei jeder und jedem einzelnen von uns“.
Rainer Will sieht vor allem im rechtlichen Bereich Verbesserungsbedarf, denn die kostenfreie Weitergabe von Lebensmitteln an karitative Unternehmen sei für den Handel mit hohem Aufwand und Steuern verbunden. Nicht zuletzt müsse das Haftungsthema für Sozialeinrichtungen überdacht werden: „Die Tafel Österreich ist kein Lebensmittelhändler – dann soll sie auch rechtlich nicht so behandelt werden“, so Will.
Martin Schenk wiederum formulierte aus Sicht der Armutsforschung bzw. Sozialpolitik das Ziel, dass armutsbetroffene Menschen in regulären Geschäften einkaufen können. Der Einkauf in Sozialmärkten sei für viele mit Scham behaftet, dennoch brauche es dieses Angebot für viele, um das Haushaltsbudget zu entlasten. Regina Amer stimmte zu, dass Menschen nicht lebenslang an Sozialmärkte gebunden sein sollten – denn es habe „etwas Entwürdigendes“, wenn man von Menschen gesehen werde, die einen kennen. Sie kritisierte zudem einen gewissen Registrierungsdschungel bei verschiedenen Anbietern und Standorten.
Ein Rezept gegen die aktuelle Teuerung konnte freilich auch an diesem Abend niemand präsentieren. Als generelles Ziel benannte Christoph Badelt, ein Wirtschaftssystem so zu gestalten, dass Menschen gar nicht erst in die Armut rutschen; passiere es doch, müsse man sie durch entsprechende Maßnahmen (z. B. Mindestsicherung) auffangen. Gerade bei hoher Inflation müsse jener Bevölkerungsteil unterstützt werden, für den diese Teuerungen existenziell sind.
Fazit: „Die Zeitenwende ist eingeläutet“
Sowohl in der Pause zwischen World Café als auch beim abschließenden Get-together wurde nicht nur gemütlich geplaudert, genascht und genetzwerkt, sondern auch noch intensiv weiterdiskutiert. Ein erfreulicher Hinweis, dass unser Zukunftsdialog bei den Teilnehmenden einen oder mehrere Nerven getroffen hat – und ein Ansporn für Die Tafel Österreich, sich bereits über den 2. Zukunftsdialog Gedanken zu machen …
„Was wir bei diesem Event an Know-how, Solidarität und Kreativität erleben durften, stimmt mich trotz schwieriger Zeiten zuversichtlich. Der Zukunftsdialog war mit zahlreichen Ideen, Unterstützer:innen, Interessierten und natürlich dank der tatkräftigen Unterstützung unserer Ehrenamtlichen ein voller Erfolg. Wir nehmen viele Inputs für unseren weiteren Weg mit. Es ist fünf vor zwölf für die Tafelarbeit – aber die Zeitenwende ist eingeläutet“, zieht Die Tafel Österreich-Chefin Alexandra Gruber Bilanz.
Vielen Dank!
Die Tafel Österreich bedankt sich bei Geier. Die Bäckerei, Gerald Groß (gross:media), Karin Bauer (Der Standard), Sabine Zhang (Trainconsulting), Isabel Bickel, Sodexo Österreich, Iss mich Catering, Etsan, Kastner Gruppe sowie bei allen Speaker:innen, (Co-)Hosts des World Cafés, Diskussions-Teilnehmer:innen und natürlich bei allen Ehrenamtlichen für die großartige Unterstützung!