Die Tafel Österreich: 1. Zukunftsdialog läutet Zeitenwende ein
Zum Auftakt ihres 25-Jahr-Jubiläums lud Die Tafel Österreich, gegründet als Wiener Tafel, gestern zum 1. Zukunftsdialog in die Wiener Urania. Mehr als 250 Teilnehmende diskutierten u. a. über SDGs, Kreislaufwirtschaft und Armutsbekämpfung sowie das Spannungsfeld zwischen karitativer und kommerzieller Lebensmittelrettung. Klares Fazit: Um die Zukunft der Tafelarbeit zu sichern, muss an vielen Stellschrauben gedreht werden. Die Weiterentwicklung der Marke ist ein Teil des Puzzles.
Wien, 19. September 2023 – Spannende Keynotes, ein World Café rund um zukunftsweisende Themen wie Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft, Corporate Social Volunteering, Armutsbekämpfung und rechtliche Aspekte der Lebensmittelrettung sowie eine Expert:innen-Diskussion zum Spannungsfeld zwischen karitativer und kommerzieller Lebensmittelrettung: Der 1. Zukunftsdialog, initiiert von Die Tafel Österreich, bot den über 250 Gästen ein umfassendes Programm.
Anlass für diese Premiere waren v. a. zwei Gründe, wie Alexandra Gruber, Geschäftsführerin Die Tafel Österreich, erklärt: „Der erste ist erfreulich: Ein Vierteljahrhundert im Dienst der Lebensmittelrettung und Armutsbekämpfung ist wahrlich ein Grund zu feiern – und wir werden dieses Jubiläum gebührend begehen. Der zweite Grund sind die zahlreichen Herausforderungen, vor denen wir aktuell stehen. Die Zukunft der Tafelarbeit steht auf dem Spiel. Wir wollen und müssen gemeinsam mit unseren Partner:innen, mit der Politik und mit Expert:innen neue Wege und Lösungen finden.“
Einen neuen Weg beschreitet die 1999 gegründete NGO mit der Weiterentwicklung ihrer Marke von der Wiener Tafel zu Die Tafel Österreich (mehr dazu in der Pressemitteilung vom 14.09.2023).
Innovative Ideen durch Schwarmwissen
Das Nachmittagsprogramm wurde von Medienexperte Gerald Groß moderiert, den Programmauftakt bildeten Keynotes von zwei Koryphäen ihres Gebiets: Gudrun Obersteiner (BOKU Wien), Top-Expertin im Bereich Abfallwirtschaft, zeigte in ihrer „Bestandsaufnahme zur Lebensmittelverschwendung in Österreich“ auf, dass Lebensmittelabfälle – wären sie ein Land – nach wie vor weltweit drittgrößter CO2-Verursacher nach China und den USA sind. Und Martin Schenk, Sozialexperte und Mitbegründer der Österreichischen Armutskonferenz, vermittelte ein besseres Verständnis von Armut, die stets kontextbezogen, unfreiwillig und durch einen Mangel an Möglichkeiten gekennzeichnet sei.
An insgesamt 14 Tischen wurde anschließend beim World Café unter der Gesamtleitung von Sabine Zhang (Trainconsulting) intensiv zu Zukunftsthemen wie „Sinnvolle Nachhaltigkeits-Kooperationen für Unternehmen und NGOs“, Kreislaufwirtschaft, Ernährungsunsicherheit, rechtliche Vereinfachung der Lebensmittelweitergabe, eine digitale Lebensmitteldrehscheibe und die Lebensmittelrettung aus der Landwirtschaft diskutiert. Die spannenden Erkenntnisse und innovativen Ideen sollen künftig auch in Fokusgruppen weiterverfolgt werden.
Podiumsdiskussion: Zeitenwende – Quo vadis, Tafel?
Das Spannungsfeld zwischen karitativer und kommerzieller Lebensmittelrettung beleuchteten anschließend Expert:innen aus den Bereichen Wirtschaft, Forschung und Sozialbereich: Unter der Leitung von Karin Bauer (Der Standard) diskutierten am Podium Regina Amer (Aktivistin gegen Wohnungslosigkeit), Wirtschaftsexperte Christoph Badelt, Alexandra Gruber (Die Tafel Österreich), Unternehmensberater Christian Horak (EY Österreich), Martin Schenk (Österreichische Armutskonferenz) und Rainer Will (Handelsverband) über Gründe und Lösungsansätze für die derzeit prekäre Situation der karitativen Lebensmittelrettung.
Eine klare Trennung zwischen karitativer und kommerzieller Lebensmittelrettung, so Christian Horak, gebe es nicht mehr. Es gehe verstärkt darum, soziale Geschäftsmodelle zu entwickeln, um sozialen Problemen mit wirtschaftlichen Ansätzen zu begegnen. Die Weiterentwicklung von Die Tafel Österreich, auch in Richtung Landwirtschaft, halte er daher für einen sinnvollen Schritt. Bei der Lebensmittelverschwendung liege der „größte Hebel wohl bei jeder und jedem einzelnen von uns“.
Rainer Will sieht vor allem im rechtlichen Bereich Verbesserungsbedarf, denn die kostenfreie Weitergabe von Lebensmitteln an karitative Unternehmen sei für den Handel mit hohem Aufwand und Steuern verbunden. Nicht zuletzt müsse das Haftungsthema für Sozialeinrichtungen überdacht werden: „Die Tafel Österreich ist kein Lebensmittelhändler – dann soll sie auch rechtlich nicht so behandelt werden“, so Will.
Martin Schenk wiederum formulierte aus Sicht der Armutsforschung bzw. Sozialpolitik das Ziel, dass armutsbetroffene Menschen in regulären Geschäften einkaufen können. Der Einkauf in Sozialmärkten sei für viele mit Scham behaftet, dennoch brauche es dieses Angebot für viele, um das Haushaltsbudget zu entlasten. Regina Amer stimmte zu, dass Menschen nicht lebenslang an Sozialmärkte gebunden sein sollten – denn es habe „etwas Entwürdigendes“, wenn man von Menschen gesehen werde, die einen kennen. Sie kritisierte zudem einen gewissen Registrierungsdschungel bei verschiedenen Anbietern und Standorten.
Ein Rezept gegen die aktuelle Teuerung konnte freilich auch an diesem Abend niemand präsentieren. Als generelles Ziel benannte Christoph Badelt, ein Wirtschaftssystem so zu gestalten, dass Menschen gar nicht erst in die Armut rutschen; passiere es doch, müsse man sie durch entsprechende Maßnahmen (z. B. Mindestsicherung) auffangen. Gerade bei hoher Inflation müsse jener Bevölkerungsteil unterstützt werden, für den diese Teuerungen existenziell sind.
„Es ist fünf vor zwölf – aber die Zeitenwende ist eingeläutet“
Beim abschließenden Get-together wurde noch intensiv weiterdiskutiert, aber auch gemütliches Networking betrieben.
„Was wir heute an Know-how, Solidarität und Kreativität erleben durften, stimmt mich trotz schwieriger Zeiten zuversichtlich. Der Zukunftsdialog war mit zahlreichen Ideen, Unterstützer:innen, Interessierten und natürlich dank der tatkräftigen Unterstützung unserer Ehrenamtlichen ein voller Erfolg. Wir nehmen viele Inputs für unseren weiteren Weg mit. Es ist fünf vor zwölf für die Tafelarbeit – aber die Zeitenwende ist eingeläutet“, zieht Die Tafel Österreich-Chefin Alexandra Gruber Bilanz.
Die Tafel Österreich bedankt sich bei Geier. Die Bäckerei, Gerald Groß (gross:media), Karin Bauer (Der Standard), Sabine Zhang (Trainconsulting), Isabel Bickel, Sodexo Österreich, Iss mich Catering, Etsan, Kastner Gruppe, Stiegl sowie bei allen Speaker:innen, (Co-)Hosts des World Cafés, Diskussions-Teilnehmer:innen und allen Ehrenamtlichen für die großartige Unterstützung.
Über Die Tafel Österreich
Die Tafel Österreich, hervorgegangen aus der Wiener Tafel, ist die größte und älteste Tafelorganisation Österreichs. Sie versorgt seit 1999 armutsbetroffene Menschen in sozialen Einrichtungen kostenfrei mit geretteten Lebensmitteln mit dem Ziel der Armutsbekämpfung. So konnten 2022 rund 896 Tonnen Lebensmittel vor der Entsorgung bewahrt und an 28.000 Menschen in fast 100 Sozialeinrichtungen weitergegeben werden. Über die letzten 25 Jahre waren es mehr als 9 Mio. Kilogramm Lebensmittel für jährlich bis zu 30.000 armutsbetroffene Personen. Mit dem neuen Namen soll dieses österreichweite Alleinstellungsmerkmal und das Engagement gegen Armut, Hunger und Lebensmittelverschwendung noch besser sichtbar werden.
Rückfragehinweis
Mag. Verena Scheidl
Leitung Kommunikation
verena.scheidl@tafel-oesterreich.at
+4366488279822
tafel-oesterreich.at
Bilder zur Meldung
Die Teilnehmer:innen des World Cafés diskutierten eifrig beim 1. Zukunftsdialog
© Die Tafel Österreich/Thomas Topf
v. l.: Angela Frigo (FEBA), Moderator Gerald Groß, Alexandra Gruber (Die Tafel Österreich) und Gudrun Obersteiner (BOKU Wien)
© Die Tafel Österreich/Thomas Topf
„Quo vadis, Tafel? – Im Spannungsfeld zwischen karitativ und kommerziell“: Podiumsdiskussion unter der Leitung von Karin Bauer (Der Standard, li.)
© Die Tafel Österreich/Thomas Topf
Expert:innendiskussion (v. .l.): Christian Horak (EY Österreich), Martin Schenk (Österreichische Armutskonferenz), Alexandra Gruber (Die Tafel Österreich), Regina Amer (Aktivistin gegen Wohnungslosigkeit), Christoph Badelt (Präsident Fiskalrat Austria) und Rainer Will (Handelsverband)
© Die Tafel Österreich/Thomas Topf