Inflation & Armut: Neue Studie belegt gesellschaftlichen Mehrwert der Tafel Österreich

Mehr als 1,5 Mio. Menschen in Österreich sind von Armut, Ernährungsunsicherheit oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Durch die Inflation nimmt gerade der Anteil jener zu, die erheblich materiell und sozial depriviert sind. Eine Wirkungsanalyse des NPO Kompetenzzentrums der WU Wien zeigt jetzt den sozialen und ökonomischen Mehrwert der Tafelarbeit auf. Die Studienergebnisse – und Ansätze zur weiteren Optimierung – wurden gemeinsam mit Sozialexpert:innen präsentiert und beleuchtet.

Zeigten den Mehrwert der Tafelarbeit auf (v.l.): Christian Grünhaus (NPO Kompetenzzentrum, WU Wien), Wilhelm Raber (Stadtdiakonie Wien), Constanze Grünhaus (Diakonie Österreich), Alexandra Gruber (Die Tafel Österreich), Markus Hollendohner (Fonds Soziales Wien)

Wien, 16. Oktober 2023 – Seit 1999 rettet Die Tafel Österreich (vormals Wiener Tafel) genusstaugliche Lebensmittel vor der Entsorgung und gibt sie kostenfrei über soziale Einrichtungen an armutsbetroffene Menschen weiter. Mehr als 28.000 Personen konnten so im Vorjahr versorgt werden – Tendenz nicht zuletzt aufgrund der Teuerung steigend. Wurden im Jahr 2020 noch 16.000 Personen versorgt, werden es heuer voraussichtlich schon doppelt so viele sein.

Wie genau diese Lebensmittelhilfe wirkt und welchen gesellschaftlichen Mehrwert – nicht nur für die materiellen, sondern auch für die sozialen Aspekte von Armut – sie bietet, hat jetzt das NPO Kompetenzzentrum der WU Wien analysiert: Auf Basis eines Wirkungsmodells wurde der gesellschaftliche Mehrwert der Tafel Österreich auf die beiden zentralen Gruppen Sozialeinrichtungen und Armutsbetroffene unter die Lupe genommen und empirisch untersucht.

Alexandra Gruber, Geschäftsführerin Die Tafel Österreich: „Gerade jetzt, in Zeiten hoher Inflation, sind Armut und Ernährungsunsicherheit in Österreich ein wachsendes, gesamtgesellschaftliches Problem. Allein im Vorjahr ist die Nachfrage nach unserer kostenfreien Lebensmittelhilfe um 40 Prozent gestiegen – dieser Trend setzt sich fort. Um unseren Beitrag weiter verbessern zu können, müssen wir wissen, wie unsere Mission tatsächlich bei jenen ankommt, denen sie gilt.“

Kluft wird größer: Zwei-Klassen-Gesellschaft bei Ernährung?

Rund 17,5 % der österreichischen Bevölkerung (das sind 1.550.000 Menschen) sind von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. 14,8 % sind armutsgefährdet – d. h., ihr Einkommen liegt unter der definierten Armutsschwelle. Verschlechtert haben sich zuletzt aufgrund der Inflation bzw. Teuerung vor allem die Zahlen bezüglich der erheblichen materiellen Deprivation (von 1,8 % in 2021 auf 2,3 % in 2022, vgl. Statistik Austria): Die betroffene Bevölkerungsgruppe (über 200.000 Menschen) kann sich grundlegende Güter oder Lebensaspekte wie Heizen, Freizeitaktivitäten oder ausreichende und ausgewogene Ernährung nicht leisten. Innerhalb eines Jahres ist etwa die Zahl derer, die ihre Wohnung nicht angemessen warmhalten können, von 6,1 % auf 10,8 % angestiegen. Fast jede zwölfte Person (7,8 %) in Österreich kann sich nicht jeden zweiten Tag eine Hauptmahlzeit leisten. [Quelle: Statistik Austria (2023): Soziale Krisenfolgen]

Dazu Markus Hollendohner, Leiter Wiener Wohnungslosenhilfe im Fonds Soziales Wien: „Armutsbetroffene sind Teil der österreichischen Gesellschaft – das ist eine traurige Tatsache. 1,5 Millionen armuts- und ausgrenzungsgefährdete Menschen sind eine sehr hohe Zahl für ein Land wie Österreich und es ist erschütternd, dass so viele Menschen ab einem gewissen Zeitpunkt im Monat etwa zwischen Heizen und Essen entscheiden müssen. Die Wirkung der Tafel Österreich bekommen wir tagtäglich mit und sie ist sehr wichtig. Denn es gibt nur eines, was Armut verfestigt: Armut.

Ernährungsangebote spielen eine große Rolle bei der Armutsbekämpfung. Da Wohn- oder Energiekosten kaum beeinflussbar sind, sparen armutsbetroffene Menschen am ehesten bei Essen, Kleidung und anderen Waren. Sie kaufen überwiegend billige Lebensmittel wie Nudeln oder Reis – der Zugang zu frischem Obst und Gemüse wird somit laut Studien zum wesentlichen Unterscheidungsmerkmal im Ernährungsverhalten verschiedener Einkommensschichten. Dies kann schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben, darüber hinaus hat Essen aber auch eine wesentliche soziale Dimension. Denn gesellschaftliche Teilhabe ist nur zu oft mit Kosten für Essen und Trinken verbunden.

Wilhelm Raber, Geschäftsführer der Stadtdiakonie, die auch seit 1989 das Armenwirtshaus Häferl betreibt, kennt dies aus der Praxis. Viele Gäste kommen seit vielen Jahren – nicht nur wegen des Essens, sondern zum Austausch und um Freundschaften zu pflegen. Zuletzt seien immer wieder Familien mit Kindern gekommen. „Das hat uns schockiert“, so Raber, der zur aktuellen Burger-Debatte klare Worte findet: „Das ist inhaltlicher Humbug.“ Die Tafel Österreich biete „Verlässlichkeit und Planbarkeit – und neben ausgewogenerer Ernährung bedeutet die Lebensmittelhilfe auch einfach Freude, wenn es einmal etwas Besonderes wie Lachs gibt.

Studienergebnis: Lebensmittelhilfe ist viel mehr als Essen

Das internationale Tafelmodell – dem Die Tafel Österreich als einzige hierzulande von Beginn an folgt – sieht die Lebensmittelverteilung nicht direkt an armutsbetroffene Personen, sondern über soziale Einrichtungen vor. Diese bieten armutsbetroffenen Menschen wiederum professionell angeleitete Wege aus der Armut. Dadurch arbeiten Tafel und soziale Einrichtungen synergistisch miteinander. Die WU-Analyse hat daher die Wirkung bei beiden Gruppen untersucht.

Armutsbetroffene erhalten Zugang zu Lebensmitteln, warmen Mahlzeiten bzw. zu einem größeren und vielfältigeren Angebot mit Frischwaren wie Obst und Gemüse. Sie sparen sich damit Geld, das sie für andere notwendige Dinge brauchen, profitieren von ausgewogener Ernährung, die letztlich einen Beitrag zur Gesundheitsförderung leistet. Es geht aber längst nicht nur um Sattwerden: Sind Grundbedürfnisse (wie Essen) nicht gestillt, sind Menschen nicht in der Lage, weitere Themen wie Konfliktbewältigung, Wohnungs- und Arbeitssuche oder Sucht zu bearbeiten. Die Lebensmittelhilfe bedeutet eine Sorge weniger und damit die erhöhte Bereitschaft, zusätzliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Nicht zuletzt geht es um soziale bzw. sozio-kulturelle Teilhabe – gemeinsame Mahlzeiten oder Highlights wie Schokolade sorgen für positive Momente und mehr Lebensqualität.

Für Sozialeinrichtungen hat Die Tafel Österreich viele positive Effekte: Die kostenfreie Lebensmittelhilfe bedeutet eine deutliche Entlastung des Budgets, Zeitersparnis (bei der Logistik bzw. Organisation von Lebensmitteln) sowie eine Minimierung des Haftungsrisikos bei der Weitergabe. Darüber hinaus ist sie aber auch ein wichtiger Türöffner, wie Studienautorin Constanze Grünhaus (Sozialexpertin, Diakonie Österreich) betont: „Das Lebensmittelangebot bzw. die Einladung zu einer Mahlzeit bietet die Möglichkeit, überhaupt mit Menschen ins Gespräch zu kommen, ist Grund für regelmäßige Kontakte und innovative Angebote – und erleichtert so die professionelle Beratung und Betreuung von Klient:innen, um diesen Wege aus der Not aufzuzeigen.“ Damit wird die Lebensmittelhilfe als „Hilfe zur Selbsthilfe“ dort eingesetzt, wo sie gerade am notwendigsten ist.

Die Erhebungen haben gezeigt, dass Die Tafel Österreich in den Sozialeinrichtungen einen wesentlichen ökonomischen Mehrwert schafft. Was aber noch mehr zählt: Sie hilft Sozialeinrichtungen, wirkungsvoller arbeiten zu können. Das hilft armutsbetroffenen Menschen noch mehr“, fasst Christian Grünhaus, wissenschaftlicher Leiter Kompetenzzentrum für Non Profit Organisationen und Social Entrepreneurship der WU Wien und Studienleiter, zusammen.

Grubers Fazit zu den Ergebnissen: „Dass unser Beitrag weit über die konkrete Lebensmittelhilfe hinaus geht und die Armutsbekämpfung unterstützt, haben wir zwar immer wieder von sozialen Einrichtungen vermittelt bekommen, jetzt liegen aber erstmals Ergebnisse auf wissenschaftlicher Basis vor, die (weit) über das hinausgehen, was wir bisher wussten. Die vorliegenden Ergebnisse bestärken uns in unserem Tun und wir werden sie nützen, um armutsbetroffene Menschen noch besser unterstützen zu können, denn unser Ziel muss es sein, Armut Hand in Hand mit unseren Partnern, den sozialen Einrichtungen, zu bekämpfen.“

Gemeinsam gegen Armut

Neben diesen Erkenntnissen wurde auch das Optimierungspotenzial der Tafelarbeit ausgelotet. Hier wurde seitens sozialer Einrichtungen etwa der Wunsch geäußert, gemeinsam mit Die Tafel Österreich bewusstseinsbildende Aktivitäten umzusetzen, oder den personellen Aufwand für die Lebensmittelübernahme zu reduzieren

Ziel muss es sein, auch künftig den Fokus auf das Thema Ernährungsunsicherheit zu legen und danach zu trachten, dass sich alle Menschen in Österreich eine gesunde und ausgewogene Ernährung leisten können – von Kindesbeinen an bis zum hohen Alter. Mit der Ausweitung des Aktionsradius über Wien hinaus und der Forcierung von Lebensmittelrettung aus der Landwirtschaft will Die Tafel Österreich künftig noch mehr Wirkung bei noch mehr Menschen erzielen.

Über Die Tafel Österreich

Die Tafel Österreich, hervorgegangen aus der Wiener Tafel, ist die größte und älteste Tafelorganisation Österreichs. Sie versorgt seit 1999 armutsbetroffene Menschen in sozialen Einrichtungen kostenfrei mit geretteten Lebensmitteln mit dem Ziel der Armutsbekämpfung. So konnten 2022 rund 896 Tonnen Lebensmittel vor der Entsorgung bewahrt und an 28.000 Menschen in fast 100 Sozialeinrichtungen weitergegeben werden. Über die letzten 25 Jahre waren es mehr als 9 Mio. Kilogramm Lebensmittel für jährlich bis zu 30.000 armutsbetroffene Personen. Mit dem neuen Namen soll dieses österreichweite Alleinstellungsmerkmal und das Engagement gegen Armut, Hunger und Lebensmittelverschwendung noch besser sichtbar werden. 

Rückfragehinweis

Mag. Verena Scheidl 
Leitung Kommunikation 
verena.scheidl@tafel-oesterreich.at
+4366488279822 
tafel-oesterreich.at

Bilder zur Meldung

Zeigten den Mehrwert der Tafelarbeit auf (v.l.): Christian Grünhaus (NPO Kompetenzzentrum, WU Wien), Wilhelm Raber (Stadtdiakonie Wien), Constanze Grünhaus (Diakonie Österreich), Alexandra Gruber (Die Tafel Österreich), Markus Hollendohner (Fonds Soziales Wien)

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© Die Tafel Österreich/Thomas Topf

Wintertagung des Ökosozialen Forums - Gruppenfoto mit Podiumsdiskutant:innen

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